Rathaus Großburgwedel 2006



Einführung von Jörg Worat
(Freier wissenschaftlicher Mitarbeiter des Sprengel Museums Hannover)

Schließen Gegensätze sich aus? Oder bedingen sie einander? Die Kunst von Hilmar Jess ist Arbeit mit Gegensätzen. Arbeit jenseits jeglicher Beliebigkeit, Arbeit auch jenseits der Schwitters-Maxime,  Verbindungen „am liebsten zwischen allen Dingen der Welt“ schaffen zu wollen. Dafür ist der Ansatz von Jess - darf man es sagen? - zu politisch. Im grundsätzlichen Sinn dieses Begriffs.

Nicht alle Dinge der Welt können bei Hilmar Jess zur Kunst werden, aber doch viele. Auch und gerade der so genannte Abfall. Die ausgediente Pflugscheibe, das Motherboard der vergangenen Generation, das Nebenprodukt aus der Glasverarbeitung: Nur einige Beispiele von Materialien, die der Künstler verwendet, verbindet, verfremdet. Mit Schmiedehammer, Schneidbrenner oder Kettensäge rückt Jess den Fundstücken zu Leibe und stellt sie in neue Zusammenhänge. Wortwörtlich elementare Arbeitsprozesse, die mit Feuer und Wasser zu tun haben, mit Erde und mit Luft: Zum Schmieden gehören nun einmal die Esse und das Abschrecken , die Kohle und das Gebläse. Aus gutem Grund spricht Hilmar Jess gern vom „alchimistischen Prinzip der Wandlung“ und rührt damit an die Wurzeln der Kunstproduktion überhaupt.

Die Arbeiten können Titel wie „Engel“, „Wächter“ oder „Verbündete“ tragen. Archetypen, deren Gestaltung niemals gängigen Kitschvorstellungen entspricht, sondern ihre Kraft aus dem Spannungsfeld zwischen Anziehung und Abstoßung bezieht; die Arbeiten wirken bei aller Ruppigkeit stets durchaus attraktiv. Zuweilen bringt Jess, wiederum in souveräner Abwandlung der klassischen Darstellungsformen, Symbolfiguren wie Jesus oder Tara, die buddhistische Göttin des Mitgefühls, ins Spiel und mahnt somit in Zeiten von Coolness und Turbokapitalismus humanistische Werte an. Ist doch das Prinzip Hoffnung für den Künstler, der sich explizit zu einer letztlich optimistischen Geisteshaltung bekennt, kein Auslaufmodell.

Hilmar Jess scheut nicht davor zurück, heutiges Grauen höchst unmittelbar zu thematisieren. Da zeigt etwa eine geschmiedete „Multimediaspinne“ auf ihrem Monitor-Korpus Bilder von Gewalt und Verwesung, ein goldener Schädel ziert das Objekt „Geschäfte mit dem Tod“, Original-Schießscheiben aus US-amerikanischen Armeebeständen stellen Menschenfiguren dar und stecken voller Munition. Und selbst derart heftige, unmissverständlich kritisch reflektierte Thematiken kommen in einem ästhetischen Erscheinungsbild daher.

Man mag solchen Zugriff in der Tradition eines Andy Warhol oder Bruce Nauman sehen. Doch Hilmar Jess hat einen sehr persönlichen Stil entwickelt. Der in faszinierender Weise ebenso zeitgemäß wie zeitlos ist, den Reiz der Oberfläche ebenso berücksichtigt wie die Tiefenwirkung, mit heutigen Materialien ewige Fragestellungen umsetzt.

Hilmar Jess gibt Antworten, reflektiert sehr bewusst eine Ära, in der Geld alles zu sein scheint und zugleich die Sehnsucht nach spiritueller Sinnfindung überall und immer mehr deutlich wird. Schließen Gegensätze sich aus? Oder bedingen sie einander?

Jörg Worat





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